Altersschätzung auf Basis der DNA-Methylierung: Reif für den Einsatz zur „Feststellung“ des chronologischen Lebensalters von jungen Migranten?

Aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen haben zu einer öffentlichen und vielbeachteten Diskussion zur „Altersfeststellung“ bei jungen Straftätern und jungen unbegleiteten Geflüchteten ohne valide Identitätsdokumente geführt. In einer leider sehr ideologisch geführten Diskussion sind die derzeit durch die Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der DGRM empfohlenen Verfahren massiv kritisiert worden. Obwohl dieser Kritik mehrfach entgegengetreten wurde (vgl. dazu www.dgrm.de/startseite/news-dgrm/stellungnahme-forensische-altersdiagnostik-bei-unbegleiteten-minderjaehrigen-fluechtlingen/), resultierte aus dieser Diskussion insbesondere bei Behörden eine starke Verunsicherung. Offenbar vor diesem Hintergrund beauftragte eine deutsche Behörde eine Altersschätzung auf Basis der DNA-Methylierung (sog. „Horvath-Uhr“) bei einer amerikanischen Firma zur Klärung der Frage der Minderjährigkeit eines jungen Migranten. Dieser Fall sorgte für ein großes Echo in den Medien, die das Verfahren als besonders genau darstellten, was zahlreiche Anfragen von Behörden und Journalisten auslöste. Diese offenbarten einen enormen Informationsbedarf hinsichtlich der Frage, ob Verfahren zur Altersschätzung aufgrund des DNA-Methylierungsgrades derzeit tatsächlich schon ausgereift genug für den Einsatz in der forensischen Praxis sind.
Zu dieser Frage wird im Folgenden Stellung genommen. Dabei sollen die bislang publizierten Daten zur Lebensaltersschätzung auf Basis der DNA-Methylierung an den Anforderungen im forensischen Kontext gemessen werden, insbesondere im Hinblick auf die Altersschätzung bei jungen Migranten mit zweifelhaften Altersangaben. Selbstverständlich gelten diese hohen Anforderungen in unserem Rechtskreis auch für Untersuchungen durch kommerzielle Anbieter unter Nutzung möglicherweise patentrechtlich geschützter Methoden.
Die Methode muss fachwissenschaftlich anerkannt, durch Publikationen in Zeitschriften mit Begutachtungssystem (peer review) belegt und möglichst unabhängig reproduziert worden sein.
Es gibt bereits zahlreiche Publikationen zur epigenetischen Altersschätzung. Diese zeigen, dass der Ansatz hochinteressant ist. Allerdings wird auch festgestellt, dass vor einem Einsatz der epigenetischen Altersdiagnostik in die Praxis noch wichtige Fragen geklärt müssen. Dabei geht es u.a. um die Generalisierbarkeit der Verfahren

auf verschiedene und nicht zwingend im Einzelfall bekannte Ethnien, die Einflüsse von Lebensstilfaktoren ([Mangel-] Ernährung, Rauchen, Alkoholkonsum) und Erkrankungen sowie die Frage nach möglichen Besonderheiten in bestimmten Altersbereichen, gerade auch im Kindes- und Jugendalter. Der praktische Einsatz epigenetischer Verfahren setzt eine wissenschaftlich fundierte Klärung der noch offenen Forschungsfragen voraus.
Die Genauigkeit der Altersschätzung mit der Methode muss ausreichend zur Klärung der vorliegenden Fragestellung sein. Klare Informationen zur Streubreite der Methode müssen vorliegen.
Die epigenetischen Verfahren bestimmen das „DNA-Methylierungsalter“, das über komplexe biologische Zusammenhänge determiniert wird und auch erheblich vom chronologischen Alter abweichen kann. Hinzu kommen Fehler über die genannten möglichen Einflüsse sowie methodisch bedingte Fehler bei der Bestimmung des Methylierungsgrades. Der im Einzelfall anzunehmende Gesamtfehler der Methode muss bekannt sein und benannt werden.
Zahlreiche Publikationen der letzten Jahre enthalten zwar Angaben zur Streubreite von Methoden zur Altersschätzung auf Basis der DNA-Methylierung. Diese haben aber offenbar zu Fehlinterpretationen hinsichtlich des zu erwartenden Fehlers bei der Altersdiagnose im Einzelfall geführt. Das gebräuchlichste Streumaß für den Fehler der jeweiligen Methode ist dabei der Mittelwert der absoluten Abweichungen (mean absolute deviation, MAD) zwischen geschätztem und chronologischem Alter. Dieser liegt nach den publizierten Daten bestenfalls bei ca. 3 Jahren, meist aber über 5 Jahren und auch deutlich darüber. Ein MAD von zum Beispiel 5 Jahren bedeutet aber nur, dass im Mittel über alle untersuchten Probanden geschätztes und chronologisches Alter 5 Jahre voneinander abweichen, wobei der individuelle Fehler auch weit darüber hinausgehen kann bzw. dies bei einzelnen Personen zwingend tun wird, da der Mittelwert immer unter den Extremen liegt. Damit dürfte die Fehlerbreite der Methoden derzeit in aller Regel noch zu hoch für die forensische Praxis sein, jedenfalls für die Altersschätzung an jungen Straftätern und jungen Migranten ohne valide Papiere. Der MAD darf jedenfalls nicht mit einem individuellen Maß der (Un-) Sicherheit verwechselt werden. Die Altersspanne, in der das chronologische Alter einer individuellen Person mit 95% oder gar an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit liegt, ist aus Angaben wie dem MAD nicht abzuleiten. Der größte Fehler wird im Einzelfall ein Vielfaches des MAD betragen.
Vor dem praktischen Einsatz epigenetischer Methoden zur Altersschätzung müssen also zunächst einmal Datensätze vorliegen, die in der forensischen Praxis brauchbare Angaben zu dem im Einzelfall zu erwartenden Fehler der Altersschätzung zulassen. Die Erarbeitung dieser Datensätze setzt aber die Klärung der angesprochenen Forschungsfragen voraus.
Schlussfolgerungen
Der Ansatz der Altersschätzung auf Basis der DNA-Methylierung ist vielversprechend. Entsprechende methodische Ansätze sind aber noch nicht ausreichend reif für einen Einsatz in der forensischen Praxis, insbesondere nicht zur Altersschätzung an jungen Straftätern und unbegleiteten, fraglich minderjährigen Flüchtlingen mit möglicherweise ungeklärter Herkunft. Vor einem Einsatz sind noch wesentliche Forschungsfragen zu klären. Sollten Methoden der epigenetischen Altersdiagnostik grundsätzlich die oben diskutierten Anforderungen erfüllen und sich in einer entsprechende Validierung als geeignet erweisen, bei einem jungen Menschen unbekannter Ethnie einen ausreichend engen individuellen Fehlerbereich zu liefern, wären die Formulierung von Standards (von der Probenentnahme bis hin zur Gutachtenerstattung) sowie die Etablierung weiterer Strategien zur Qualitätssicherung (z.B. Ringversuche) erforderlich. Nur so lässt sich ein

Niveau der Begutachtung sicherstellen, das im forensischen Kontext in Deutschland unabdingbar ist. Selbstverständlich werden auch bei Einsatz dieser Methoden einschlägige rechtliche und ethische Grundsätze zu beachten sein.
Bei allem Verständnis für den Druck, unter dem Behörden und Politik in der Diskussion der Frage der „Altersfeststellung“ bei jungen unbegleiteten Geflüchteten ohne valide Identitätsdokumente und jungen Straftätern stehen, ist ein voreiliger Einsatz (noch) nicht ausreichend validierter Methoden nicht zielführend und gefährdet die Rechtssicherheit. Es gibt derzeit zahlreiche wissenschaftliche Arbeitsgruppen, die mit großem Engagement an der Optimierung konventioneller Methoden sowie der Entwicklung bzw. Validierung neuer Verfahren zur Altersschätzung arbeiten. Für Behörden und Politik ist dieses Feld naturgemäß schwer überschaubar. Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin steht als Ansprechpartnerin jederzeit zur Verfügung; sie vereint unter ihrem Dach zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das Forschungsfeld „Altersschätzung“ überblicken und als Beraterinnen und Berater zur Verfügung stehen.

Der Vorstand der DGRM

 

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