DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR RECHTSMEDIZIN

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Aktuelles aus dem Institut Essen

Stellungnahme zum Thema Altersschätzung

der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin aus aktuellem Anlass:

Zum Positionspapier der Caritas “Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland” vom 16.12.2013

In ihrem Positionspapier äußert sich die Caritas auch zu den wissenschaftlichen Verfahren der Altersdiagnostik bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Als übliche ärztliche Methoden der Altersdiagnostik werden Ganzkörperuntersuchungen, Gebissuntersuchungen und radiographische Untersuchungen des Handwurzelknochens (richtig gewesen wäre: der Hand und des Handgelenks) sowie des Schlüsselbeins genannt. Es wird behauptet, dass „[d]erartige Untersuchungen […] hinsichtlich ihrer Aussagekraft in Ermangelung valider Referenzdaten und angesichts der Ungenauigkeit der Ergebnisse mit erheblichen Unsicherheiten behaftet“ seien. Weiterhin wird ausgeführt, dass das Wachstum und die Skelettreife eines Menschen von mehreren Einflussgrößen bestimmt würden. Als solche Einflussgrößen benannt werden soziale Gegebenheiten, Umwelt, Ernährung, chronische Krankheiten, genetische Determinanten sowie psychosoziale Faktoren. Im Zusammenhang mit den zum Zweck der Altersdiagnostik empfohlenen Röntgenuntersuchungen wird unter Verweis auf § 23 Abs. 1 der Röntgenverordnung der Eindruck erweckt, dass derartige Röntgenuntersuchungen nicht legitimiert seien, da kein gesundheitlicher Nutzen für die Betroffenen resultiere. Zitiert wird eine Entschließung des 113. Deutschen Ärztetages, in der eine Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten bei der „Altersfestsetzung“ abgelehnt wird. Als am ehesten geeignete Methode der „fiktiven Altersfestsetzung“ benennt die Caritas schließlich die Inaugenscheinnahme in Kombination mit der Feststellung des Reifegrades (kognitive Verhaltensbeurteilung und psychologische Beurteilung).

Zunächst ist festzustellen, dass die Caritas in ihrem einseitigen und fehlerbehafteten Positionspapier die umfangreichen Leistungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin um eine wissenschaftliche Fundierung und internationale Harmonisierung der forensischen Altersdiagnostik bei lebenden Personen völlig ignoriert.

In ihrer Darstellung zitiert die Caritas die Röntgenverordnung unvollständig und sinnentstellend. Gemäß § 25 Abs. 1 der Röntgenverordnung ist der Einsatz von Röntgenstrahlen am Menschen bei fehlender medizinischer Indikation in „durch Gesetz vorgesehenen oder zugelassenen Fällen“ sehr wohl gestattet. Dementsprechend wurde von der AGFAD als am besten geeignete Methodik für die forensische Altersdiagnostik bei lebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen bei vorhandener Rechtsgrundlage für Röntgenuntersuchungen die Kombination aus einer körperlichen Untersuchung, einer zahnärztlichen Untersuchung mit Auswertung einer Röntgenaufnahme des Gebisses sowie eine Röntgenuntersuchung der Hand empfohlen. Bei abgeschlossener Handskelettentwicklung soll eine zusätzliche Röntgen- oder CT-Untersuchung der Schlüsselbeine erfolgen (Schmeling et al. 2008, Rechtsmedizin 18:451-453). Bei fehlender Rechtsgrundlage für Röntgenuntersuchungen empfiehlt die AGFAD eine körperliche Untersuchung und eine Inspektion der Mundhöhle (Lockemann et al. 2004, Rechtsmedizin 14:123-125). Durch den Einsatz röntgenstrahlenfreier bildgebender Verfahren ist in naher Zukunft eine deutliche Verbesserung der Aussagesicherheit von Altersschätzungen ohne erforderliche Legitimation für Röntgenuntersuchungen zu erwarten.

Zu den die forensische Altersdiagnostik betreffenden Entschließungen Deutscher Ärztetage haben bereits Dettmeyer (2010, Rechtsmedizin 20:116-122) und Parzeller (2011, Rechtsmedizin 21:12-21) ausführlich Stellung genommen. So wurde ausgeführt, dass diese Entschließungen lediglich deklamatorischen Charakter haben und die Rechtmäßigkeit der Altersdiagnostik nicht infrage stellen können.

Der Einfluss von ethnischer Zugehörigkeit und sozioökonomischem Status auf die im Rahmen der Altersdiagnostik untersuchten Entwicklungssysteme wurde durch Forschungsprojekte von AGFAD-Mitgliedern geklärt, und valide, statistisch abgesicherte Referenzdaten wurden generiert (z.B. Schmeling et al. 2000, Int J Legal Med 113:253-258; Olze et al. 2004, Int J Legal Med 118:170-173; Schmeling et al. 2006, Int J Legal Med 120:1-4; Schmeling et al. 2006, Int J Legal Med 120:121-126).

Die Widersprüchlichkeit des Caritas-Papiers erreicht schließlich ihren Gipfel in der Empfehlung von Altersschätzungen auf der Grundlage der psychosozialen Entwicklung. Diese unterliegt den bereits angeführten Einflussgrößen in stärkerem Maße als körperliche Reifungsparameter. Außerdem fehlen gerade für psychosoziale Altersschätzungen valide Referenzdaten.

Prof. Dr. med. Andreas Schmeling und Prof. Dr. med. Gunther Geserick für die Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin


(Die Stellungnahme steht im Mitgliederbereich als pdf zur Verfügung)

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